Stadt schreiben

#StadtWeiterDenken

Jetzt habe ich erfahren, dass ich es bin, die „Stadt“ schreiben soll, mit Herz, Hand und Verstand will ich mich trauen. Ab Mai 2022 werde ich die zweite Neu-Ulmer Stadtschreiberin sein und in Neu-Ulm leben, um zu schreiben.

Unser Leben verläuft zyklisch, immer neu erfahren wir bspw. Jahres- und damit Lebenszeiten, was mich in diesem Augenblick schmunzeln lässt, denn ich schreibe an einem Gedichtzyklus, der heißt: Wie ich einst den Zyklus durchbrach. Doch wie fängt man an, das Zyklische bewusst künstlerisch neu zu gestalten? Man wechselt die Perspektive und tauscht sich über Erfahrenes aus und/oder man bewirbt sich mit literarischen Texten und einem Konzept zu alten und dann neuen Steinen auf ein Stadtschreiberamt in einer Stadt, die man noch nicht gelebt hat, wie in meinem Fall. Wenn man dann auch noch überraschenderweise angenommen wird, ergeben sich Perspektivwechsel wie von selbst. Die Jury hat meine Texte als „intensiv, leidenschaftlich und bildstark“ beschrieben, und ich frage mich, ob ich meinen bisherigen Texten gerecht werden soll. Als Leser fühle ich mich oft neugeboren, als würde ich zum allerersten Mal lesen, vor einem Text. Das ist eine Perspektive, die ich auch einem Gemälde schuldig bleibe, und ich begegne ihr mit allem Mut zum Neuen, den ich nur aufbringen kann, immer wieder in kleinen und großen Schritten.

Ich bin studierte Literaturwissenschaftlerin, und es hat Jahre gedauert, mich von dem antrainierten Sezierbesteck des Studiums wieder frei zu machen und mir meine ganz eigene Perspektive auf Welt, Text und Textwelten zu erlauben. Herta Müller, über deren Werke ich meine Dissertation schreibe, hat einmal treffend formuliert: „In jeder Sprache sitzen andere Augen.“ Das ist interessant in mehrfacher Hinsicht. Es ist, als würden „Sprachkörper“ mehr oder weniger fremd, je nach Fremdsprachenbeherrschung umherlaufen, sonst könnten dort keine Augen sitzen. Tatsächlich ist es aber eher so, dass bei mir nicht nur das Deutsche schreibt, sondern auch das Koreanische, in dem ich einige Jahre gelebt und studiert habe. Seoul war wohl einer meiner größten Perspektivwechsel, eine neue Stadt, eine vollkommen neue Kultur. Seoul hat sich als Stadt in mich eingeschrieben, in meine Texte, in meine Handschrift, in meine Sicht auf die Welt. In jedem Herbst, den ich in Deutschland erlebe, geht ein unsichtbarer koreanischer Herbst neben mir her.

Schon jetzt stelle ich mir Neu-Ulm als einen lebendigen Organismus vor. „Stadt“ sehen, fühlen, ertasten und schließlich schreiben hat für mich auch mit einer spezifischen Art von individuell gelebter Geschwindigkeit und damit mit Bewegung zu tun. Das hat jede Stadt für sich und das macht sie neben vielen anderen Attributen und Eigenheiten einzigartig. Ich bin also froh, dass mir schon jetzt von der Stadt ein Fahrrad versprochen wurde, und kann es kaum erwarten, „Stadt weiter zu denken und neu zu (er-)leben.“

Von Herzen danke an alle, die das möglich gemacht haben
Julia Kulewatz
 

Nachtrag zum Foto:
Das Foto von Julia Kulewatz entstand am 20. November 2021 in Erfurt und wurde von dem syrischen Fotografie-Künstler Raed Alhousen im Rahmen der „Ausstellung und Präsentation syrischer Trachten des 19. Jahrhunderts“ durch den Syrischen Kulturverein e. V. Thüringen-Erfurt spontan aufgenommen. Die weibliche Erzählkunst hat in Syrien eine Jahrhunderte alte Tradition und dieser wird mit großem Respekt begegnet. Deshalb bin ich sehr stolz, dass eines meiner Gedichte von dem bekannten syrischen Dichter und Übersetzer Mohammad Alabdullah ins Arabische übersetzt und in der Literaturzeitschrift „Literary Weekly“ am 21.11.2021 in Damaskus publiziert wurde.

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