Der Stadtschreiberin schreiben
Seit vielen Jahren pflege ich internationale Korrespondenzen zu Menschen, die mir auf unterschiedlichste Weise begegnet sind. Eine Hälfte meines Herzens wohnt noch immer in Seoul. Meine Freunde dort sehen mich tagsüber durch die Straßen streifen oder in Cafés lesen. Wenn in Seoul Tag ist, ist es hier Nacht und ich träume vom Lesen in koreanischen Cafés. Wenn dann der Tag anbricht, schreibe ich Briefe mit Gedichten darin und schicke sie an Kukhwa und Jin, die Chrysantheme und die Hüterin der Schätze. Jin hat die ganze Welt bereist, tut es noch, und Kukhwa ist kürzlich Mutter eines wunderschönen Jungen geworden. Erste Male, von denen ich so weit entfernt bin. Das Leben besteht aus ersten Malen und den unwiederholbaren Momenten. Auch hier für mich in Neu-Ulm, denn wo sonst kann man fragen, wo es die besten Seelen zu kaufen gibt?
Als mir unser rosa Rosenbauchsittich-Mädchen Lunabell (den Namen musste ich erst eigens für sie erfinden) am 24.12.2019 in einer Tierhandlung mit all der Willensstärke, zu der dieses äußerlich kleine zarte Wesen, nur fähig ist, begegnete, wusste ich nicht, wie sie mein Leben für immer verändern würde, ähnlich wie Korea. Was macht man denn auch an einem verregneten Weihnachtsnachmittag in einer Tierhandlung? Richtig, man kauft Würmer für seinen zahmen Kugelfisch Milton, weil die Vermieterin eine Regentonne im Hinterhof einfach nicht erlaubt.
Heute schaukelt Lunabell am liebsten auf einer alten Schriftrolle aus Reispapier, koreanische Gedichte sind auf sie in einem sehr alten Koreanisch mit Tusche geschrieben, umrahmt von aquarellierten Azaleenblüten, übrigens das erste Wort, das ich auf Koreanisch sagen konnte, Azaleenblüte … Shindalleeh. Lunabell schaukelt also auf alten koreanischen Gedichten, die mit mir weit über den Ozean gereist sind. Manchmal lese ich ihr Briefe vor, sie mag die fremd klingenden Wörter und integriert ihren Klang in ihren Gesang. Inzwischen bekomme ich auch Briefe aus Syrien und Kunst auf Postkarten von Menschen, die mir zuerst in ihrer Zeichnung begegnen oder den selbstgemachten Muschelketten mit Schätzen aus Griechenland von Heidi mit der weißen Feenhündin, aus Russland von Vladimir und der transsibirischen Eisenbahn, mitsamt dem richtigen Ticket, denn meinen ersten Roman wollte ich auf der Fahrt schreiben. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich gerne alle Sprachen dieser Welt verstehen und sprechen können. Ich bilde mir ein, dann gäbe es Frieden. Lunabell vereint sie alle im Gesang, da ist nur noch Schönheit und Frieden.
Es war mir demnach eine Herzensangelegenheit, auch Briefe nach Neu-Ulm zu bekommen und von hier aus als Stadtschreiberin zu antworten. Ein neuer Ort, neue Erfahrungen, vielleicht neue Sprachen und Dialekte … Die Pension, in der ich untergekommen bin, nimmt leider keine Post an, dafür gibt es gar nicht die Möglichkeit. Aber die Stadt Neu-Ulm hat mir einen Wunsch erfüllt: Ich habe ein eigenes Postfach im Rathaus bekommen und erste Briefe sind bereits eingetrudelt. Da kamen neue Verlagsvisitenkarten vom Kulibri (das Wappentier von meinem Verlag kul-ja! publishing), ein Telegramm aus dem Zeppelinmuseum und ein sehr trauriger, mehrseitiger blauer Brief mit Tagebucheinträgen von meiner Großmutter aus Berlin. Ich beantworte sie alle, manchmal mit Gedichten.
Die eigene Handschrift ist absolut einzigartig, Ausdruck von Persönlichkeit, Stimmung und manchmal sogar Werdegang. Ich wünsche mir mehr Briefe nach Neu-Ulm, ganz egal von wem, und in welcher Sprache, egal woher, ich werde immer antworten. Dieses erste Mal als Stadtschreiberin von Neu-Ulm.
Post an:
Julia Kulewatz
2. Stadtschreiberin zu Neu-Ulm
im Rathaus Neu-Ulm, z. Hd. Frau Yvonne Schefler
Augsburger Straße 15
89231 Neu-Ulm
(Foto: Julia Kulewatz)
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