Was ich bei einem Stadtspaziergang* gelernt habe

Stadtgeschichte ist Militärgeschichte. Stadtführungen in Neu-Ulm sind Führungen durch Militärgelände. Selbst der einzige Straßenzug mit erhaltenen Gründerzeithäusern erzählt Militärgeschichte, verdankt er sich doch der Tatsache, dass er im 2. Weltkrieg nicht zerstört wurde.

Davor und danach: Jede Menge Ambivalenzen. Festungsbau und Entfestigung, Umwallung und Abtragung. Festungssteine in Kirchenmauern, Festungssteine in Denkmälern. Besatzer und Beschützer, Pershings und Proteste.

Die Bundesfestung: Nach französischem Vorbild gebaut, um gegen die Erfinder gewappnet zu sein. Ähnlich schräg wie die Erdaufschüttung vor dem Festungsgraben, das Glacis: Kaum hatte man die Festung vollendet – eine der größten und modernsten in Europa – , war ihr militärischer Nutzen perdu. Ridikulisiert von Geschützen, deren Reichweite sich in den 17 Jahren Bauzeit verdreifacht hatte.

Technischer Fortschritt als Feind des technischen Fortschritts.

Die Gegenstrategie: Verstärken, weiter bauen, neue Bastionen, Forts, Schutzräume. Ein Wettlauf zwischen Geschütztechnik und Festungsbau beginnt, das Laufen höret nimmer auf. 1914 ein letztes Aufwallen: Die Festung wird neuerlich erweitert, armiert, vorgeschoben. Bleibt eine Unvollendete. Nie auch war sie wirklich im Krieg. 1938 das Aus. Ulm verliert seinen Festungsstatus.

Stadtgeschichte als fortlaufende Rückzugsgefechte.

Aber: Militärgeschichte ist auch Entwicklungsgeschichte. Der Festungsbau, die Entfestigung, die US-Garnison – sie alle waren Treiber für das Wachsen der Stadt.

Seit ihrem erstmaligen Umbau diente die Festung immer wieder als Materiallager. Mit der Abtragung großer Teile kamen die Steine an anderer Stelle zum Einsatz, oft an bemerkenswerter: In der katholischen Kirche ab 1860, im Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges von Edwin Scharff, 1932 eingeweiht, oder im Eingangstor zum Kollmannspark, als spätromantisches Zitat.

Heute geht man durch die gepflegten Reste der Feste spazieren, Bier trinken, Garten schauen.

Oder die amerikanischen Ambivalenzen. Das andere große Militärgelände: Wiley. Von 1951 bis 1991 von US-Truppen besetzt, bewohnt, für den Kalten Krieg bestückt. American way of life hinter Stacheldraht. Stationierung von Pershing-II-Raketen, Demos vor den Barracks, 1983 eine Menschenkette, die von Neu-Ulm bis Stuttgart steht. Und weltweit in den Schlagzeilen.

Heute ist Wiley ein Neu-Ulmer Stadtteil, fährt ein Bus hin, stehen neue Hochschulbauten, alte Kastanien, pfeift der Wind über die Ebene der jüngsten Geschichte, sagt ein Hiergebliebener auf einem Plakat zum Stadtjubiläum „Wir leben Neu – Wiley hier mein Herz verloren hab“. Militärgeschichte trifft Stadtgeschichte.

 

Vermintes Gebiet? Im Gegenteil. Freundliche Menschen, man kennt sich, wird auf der Straße gegrüßt.

Nach dem Marsch durch die Vergangenheit kehrt man im Café ein, sitzt an Nierentischen, in Fünfzigerjahresesseln. Die Espressomaschine zischt, der Schokoladenkuchen wird serviert, als gelte es, etwas gutzumachen.

* Dank an Peter Liptau und Dr. Larissa Ramscheid vom Stadtarchiv Neu-Ulm

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