Die Verlebendigung der Dinge
Seit dem 7. November liegt dem Axel Dielmann Verlag nun meine Endfassung des Stadtschreiberbuches, „Die Verlebendigung der Dinge“, zum Lektorat vor. In Neu-Ulm habe ich während meines dreimonatigen Aufenthalts in der Stadt eine umfassende Materialsammlung angelegt, die die Grundlage für meinen Schreibprozess gebildet hat. Mehr war vor lauter Terminen, Anfragen, Interviews, Begegnungen und Korrespondenzen gar nicht möglich. Anfragen und mitunter sogar ein übertragenes Gefühl unausgesprochener Forderungen an meine Person kamen nicht nur aus Neu-Ulm, sondern auch aus Ulm. In Ulm wurde ich gleichermaßen willkommen geheißen, was mich gefreut und manchmal sogar erstaunt hat. Zwei Jahre wurde uns ein Stillstand verordnet, um den niemand von uns gebeten hatte. Das hat vor allem die Kunst und Kultur, die Musik und das Schöne, das Große in uns betroffen. Als hätte man das alles in einem Sommer nachholen wollen. Gewissermaßen fand eine Überflutung statt. „Nein“ ist ein ganzer Satz und wird oft negativ aufgeladen und als Ablehnung empfunden. Mir ist es ein wichtiges Wort geworden und ich spreche es in verschiedenen Sprachen. Sich den eigenen Raum und damit auch eine Privatsphäre zu bewahren, ist mir nicht nur als Künstlerin wichtig. Ich gestehe auch anderen ihren eigenen (Kreativ-)Raum zu. Für mich als schöpferischer Mensch ist das sogar (überlebens-)wichtig. In Neu-Ulm hat mir dieser gefehlt. Wir leben in Zeiten, in denen man Menschen einen Marktwert anheftet, nicht ihren Büchern, die durchaus Produkt werden können, nein, lebendigen, atmenden Wesen, Menschen. Auch meine Gedichte atmen.
Von Anfang September bis Anfang November habe ich also intensiv poetisiert, zusammengefasst und „verlebendigt“. Kreative Prozesse sind dynamisch und immer in Bewegung, sie können sich verselbstständigen, führen ein Eigenleben und wachsen, nach meiner Erfahrung, wenn sie gut gelingen, immer über ihren eigentlichen Schöpfer hinaus. Dann können sie frei werden und sogar fliegen lernen. Wenn man im Team arbeitet, kann es passieren, dass sich Ansichten ändern, Dinge, Menschen und Themen plötzlich nicht mehr passen, oder dass man ungewollt hinter Fassaden blickt und schockiert zurückbleibt.
Mit den „Orkaniden“, meinem Lyrikdebüt, kam Jantien Sturm in mein Leben. Wir haben einander als Künstlerinnen von Anfang an sehr viel Raum zugestanden, bevor wir uns für eine Zusammenarbeit entschieden haben. Jantien Sturm wollte meine Texte passagenweise erfühlen. Gewissermaßen fand ein Übersetzen ins Bild statt. Meine Sturmgedichte, deren lyrisches Ich als eine weibliche Stimme, einen starken weiblichen Sturm bildet, in welchem auch Wut in ihrer Urkraft, als weibliches Wort, reine Schönheit ist, hat Jantien Sturm übertragen, wie es keine andere gekonnt hätte. Seit diesem Arbeitsprozess habe ich ein großes Vertrauen entwickelt. Ein Konkurrenzdenken hingegen kann einfach alles Schöpferische blockieren. Bild und Text werden in meinen Werken niemals aneinandergeraten. Das wäre das Gegenteil von einer gelungenen Teamarbeit. Vielmehr sollten sie einander das Fliegen lehren.
Ich habe mich für „Die Verlebendigung der Dinge“ entschieden, auf Vertrauen zu bauen und damit für Jantien Sturm als finale Illustratorin. Auch, weil sie meine Texte direkt umgesetzt hat, mutig „Neues“ erschaffen hat. Ihre Bilder sind aus meinen literarischen Texten „gewachsen“. Als Verlegerin bin ich es auch gewohnt, zunächst unbequeme Entscheidungen zugunsten des Gesamtergebnisses zu treffen. Ein „Produkt“ wird nur so gut, wie das Team, das dahinter steht. Oft zeigt sich das erst mitten im Arbeitsprozess.
Gestern Nacht habe ich geträumt, winzig klein zu sein und gut versteckt in einem Schwanengefieder über die Donau zu treiben.
Aus Neu-Ulm nehme ich ein großes Gummiboot mit, in dem ich mich an meinem vorletzten Tag dort, über einen Seitenarm der Donau, treiben ließ. Nie werde ich das Licht vergessen, welches sich über mein Gesicht legte und die sanften Schaukelbewegungen, das Plätschern und die flügge gewordenen Schwäne, die wie aus dem Nichts an meiner Seite auftauchten und eine ganze Weile neben mir herschwammen. Auch das ist Neu-Ulm, habe ich gedacht. Ich hätte lieber in einem Gummiboot gelebt und gearbeitet, was in meiner Wahrnehmung oft aneinander verschwimmt. Die Kapitel im Buch sind in Schwäne unterteilt, jedes Kapitel ein Schwan, ein Hauptthema, eine spezielle Erfahrung des Lebens als etwas Großes, Poetisches, manchmal Schmerzhaftes. Das konnten nur Schwäne werden, auch Trauer tragen sie in Würde, Trauer über das, was war, was hätte sein können, oder das, was niemals ist, niemals wird. Anmut und Schönheit in allem, was ist, das war das Gefühl meines Gehenlassens, meines Treibenlassens in einem Gummiboot, welches viel zu lange im Rathaus lag.
Im Volksmund sagt man, Schwänen können dunkle Kräfte nichts anhaben, sie würden unberührbar, wie weit geöffnete Lichtschiffe auf dem Wasser, an Land oder in der Luft. Sie sind eng mit Visionen, dem Tanz, der Dichtkunst, der Musik und allem Schönen verbunden. An ihren Federn perlt alles Unreine ab. Es sind die Federn der Schriftsteller und Dichter. Selbst die Schattenplätze sind verheißungsvoll. Wir müssen wieder träumen, um zu erfühlen, um zu verstehen.
Dies ist mein letzter Blogbeitrag für Neu-Ulm. Ich bin dankbar für alles, was ich erfahren durfte. Für jedes Gespräch, jede Begegnung, jede Erfahrung und Erkenntnis, auch für das Unschöne, in dem das Schöne wohnt. Ich danke allen, die mich bis hierhin begleitet haben, und wünsche einen wunderbaren Jahresausklang. Wenn ich an „Die Verlebendigung der Dinge“ denke, ist da vor allem große Freude über etwas, das endlich von mir fliegen kann. Begegnen wir uns immer neu, in einem neuen Jahr, voller verlebendigter Geschichten.
Julia Kulewatz, 20. Dezember 2022
Foto: Jantien Sturm
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